Ingelore Gaitzsch

Dr. Ingelore Gaitzsch begann ihre Laufbahn als Bauingenieurin mit einer Ausbildung zur Maurerin, die sie von 1962 bis 1965 neben dem Abitur an der Erweiterten Oberschule Oschatz absolvierte. Sie schloss 1970 an der Technischen Universität Dresden ihr Studium ab und war dort bis 1975 als Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Baukonstruktionslehre beschäftigt sowie von 1973 bis 1975 als Postgradualstudentin Ausbautechnik eingeschrieben. Von 1975 bis 1980 übernahm sie die Projektleitung für die Entwicklung, Planung und bauliche Umsetzung des Experimentalbaus WBS 70 mit Erdgeschosszone. 1979 schloss sie ihre Promotion ab. Sie war von 1980 bis 1989 als Ingenieurin in einer Sonderabteilung des VEB Forschung und Projektierung Dresden und ab 1990 im VEB Wohnungsbaukombinat Dresden, in der Bauplanung Sachsen GmbH und im Architektur- und im Beratungsbüro Dr. Körner tätig. 2009 gründete Gaitzsch ihr eigenes Ingenieurbüro und arbeitet seit 2013 als Netzwerkmanagerin beim Unternehmensnetzwerk texton e.V.

Das Projekt

Experimentalbau WBS 70

Bei der Entwicklung der modularen Großtafel- bzw. Plattenbauweise für den Wohnungsbau wurde in der DDR gegen Ende der 1970er Jahre Versuche unternommen, die Funktionalität der Erdgeschosszonen zu variieren.

1973 hatte die Regierung der DDR ein Wohnungsbauprogramm zur Deckung des zunehmenden Bedarfs an Wohnungen beschlossen. Dies hatte eine umfassende Rationalisierung des bereits bestehenden Plattenbaus zur Folge und führte zur Entwicklung der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70). Das bau- und planungstechnische Wissen für diesen Typ wurde in einer Gemeinschaftsarbeit von Bauakademie, fünf Wohnungsbaukombinaten und der Technischen Universität Dresden erarbeitet.

1972 erfolgte die Ersteinführung der Serie im Wohnungsbaukombinat (WBK) Neubrandenburg. Die WBS 70 wurde daraufhin schrittweise in das Produktionsprogramm aller Wohnungsbaukombinate übernommen. Um in den Erdgeschosszonen von Wohngebäuden Handels- und Dienstleistungseinrichtungen, gastronomische Funktionen, Clubs und kleine Werkstätten unterbringen zu können, bedurfte es eines ergänzenden Fertigteilsystems. Ab 1977 entstanden im Forschungsschwerpunkt »Erdgeschosszonen für WBS 70« die Grundlagen für die Anwendung von Wandrahmen für diese Funktionstypen. Es wurde ein konstruktiv und technologisch kompatibles System entwickelt, das sich durch eine Geschosshöhe von 3,30 m und die Möglichkeit einer offenen Grundrissgestaltungen auszeichnete. Die Vorgaben für Vorfertigung, Transport, Lagerhaltung und Baustellenmontage von Plattenelemente und der Einsatz von WBS-70-Taktstraßen mussten dabei gewährleistet bleiben. In Bautzen wurden die Forschungsergebnisse mit einem Experimentalbau in die Baupraxis überführt. Eigens dafür gründeten das Baukombinat Dresden und die TU Dresden ein überbetriebliches »Bautechnisches Konstruktionsbüro«. Eingestellt wurden überwiegend junge Mitarbeiter*innen und Hochschulabsolvent*innen ohne Planungserfahrungen, um abseits festgefahrener Routinen Lösungen zu finden.

Nach erfolgreicher Erprobung des Fertigteilsystems WBS 70/3,30 m im Wohnungsbau wurde das System unmittelbar oder mit nur geringem Anpassungsbedarf im Schulbau eingesetzt. Zudem ermöglichte es räumliche Varianten im innerstädtischen Bauen und bei der Nachverdichtung.

Das Projekt in Zahlen

Auftraggeber VEB Baukombinat Dresden
Planung/Ausführung/Auswertung TU Dresden, Bautechnisches Konstruktionsbüro
Bauzeit 1976–1977

Porträt

Modular und seriell

Ingelore Gaitzsch ist sofort fasziniert, als sie als Schülerin 1962 das erste Mal eine Baustelle betritt. An der erweiterten Oberschule Oschatz wird sie begleitend zum Abitur und gemeinsam mit ihren Mitschüler*innen zur Maurerin ausgebildet. Sie empfindet es als großes Glück, dass sie in ihrem anschließenden Bauingenieurstudium gemeinsam mit Architekt*innen unterrichtet wird und sie neben dem konstruktiven Ingenieurbau mit gestalterischen Fragen in Berührung kommt. Die Lehrinhalte an der Universität vollziehen den Übergang von der Nachkriegsmoderne zum Aufbruch in den modernen Fertigteilbau der 1970er und 1980er Jahre. Das industrielle, serielle und modulare Bauen beginnt sich unter dem Druck der wirtschaftlichen Situation in der DDR als vorrangiger Lösungsansatz zu etablieren. Und so setzt sich Gaitzsch auch in ihrer Promotion mit grundlegenden geometrischen Strukturen in der Fertigteilbauweise auseinander.

Mein berufliches Leben ist in starkem Maße vom modularen und seriellen Bauen mit Fertigteilen geprägt. Der Schwerpunkt im Fertigteilbau lag bei mir im Betonbau. Angefangen hat das Thema bereits im Studium.

Gaitzsch empfindet und erlebt keine Nachteile als Studentin: »Wir wurden gleich behandelt und für voll genommen. Es wurde ja auch politisch befürwortet und unterstützt, sich als gleichberechtigte Partner im Beruf zu fühlen.« Später in den 1980er Jahren wird ihr die Romanfigur Franziska Linkerhand, die Architektin aus dem gleichnamigen Roman von Brigitte Reimann, zum Vorbild und dient ihr als Identifikationsfigur. Genau wie diese, erzählt Gaitzsch, habe sie sich an den politischen Verhältnissen gerieben und die Freiräume der Baustellen ergriffen, um ehrlich und authentisch zu handeln.

Im Anschluss an ihre Assistenzzeit hat Gaitzsch, wie sie sagt, wieder großes Glück. Man bietet ihr, obwohl sie noch keine Planungserfahrung hat, eine Stelle als Projektleiterin bei der Entwicklung und baulichen Umsetzung eines Experimentalbaus als Wohnungsbau-Fertigteilsystem mit funktionsoffener Erdgeschosszone an. Mit dem politischen und gesellschaftlichen Neubeginn 1990 endet für Ingelore Gaitzsch und viele Kolleg*innen die Auseinandersetzung mit seriellen Bauweisen. Mit ihrem eigenen Ingenieur- und Beratungsbüro macht sie ab 2009 den Werkstoff Textilbeton zum Schwerpunkt ihrer Beratungs- und Netzwerkarbeit. In dem staatlich geförderten Unternehmensnetzwerk texton e.V., das kleine und mittlere Unternehmen der Bau-, Textil- und Maschinenbranche auf dem Gebiet des Textilbetons zu gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsarbeit zusammenführt, übernimmt sie das Netzwerkmanagement sowie die Projektentwicklung und Projektkoordination.

 

Im Gespräch mit Ingelore Gaitzsch