Weibliche Vorbilder im Bauingenieurwesen sind nur nach mühsamer Suche zu finden. Doch es gibt sie, die Pionierinnen der Großbaustellen der Moderne. Es sind die Frauen der Industrialisierung, die einen Zugang zur Technik finden und sie nutzen, und diejenigen der frühen Moderne, die sie darüber hinaus zu ihrem Beruf machen.
Im England und den USA des frühen 19. Jahrhundert gibt es Unternehmerfamilien, in denen Frauen eine starke Stellung haben, ohne auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert zu sein. In einem solchen Umfeld bewegt sich Sarah Guppy. Sie heiratet 1795 Samuel Guppy aus Bristol, einen Metallgießer und Hersteller von Landmaschinen. Ihr technisches Wissen eignet sie sich durch Praxis im informellen Erziehungssystem ihres Familienunternehmens an. Sie entwickelt zeichnerische Fähigkeiten, baut ein Hängebrückenmodell und hält technisches Wissen schriftlich fest. Es werden ihr zehn Patente zugeschrieben: vom Schutz von Eisenbahndämmen gegen Erosion und Böschungsrutsche durch Pflanzungen bis zu einer Methode zur Abdichtung von Schiffsrümpfen. Als Geschäftsfrau investiert sie in Hängebrückenprojekte, ist Miteigentümerin einer Eisenbahngesellschaft und beteiligt sich an der Finanzierung des Bristol Institute for the Advancement of Science und greift als Autorin in bautechnische Diskurse ein.
Seit 1865 ist Emily Roebling mit Washington A. Roebling verheiratet. Er ist der Sohn des aus Deutschland emigrierten Kabelherstellers, Architekten und Brückenbauers John A. Roebling. Gemeinsam planen Vater und Sohn den Bau einer Hängebrücke über den East River in New York. Nach dem Tod des Vaters übernimmt Washington den Bau der späteren Brooklyn Bridge. Als er erkrankt und dauerhaft ausfällt, ist es Emily Roebling, die den Baubetrieb am Laufen hält. Sie eignet sich im Selbststudium Spezialkenntnisse in Mathematik, Festigkeitslehre sowie Kabel- und Brückenkonstruktion an. Bei täglichen Inspektionen auf der Baustelle lernt sie die Sprache der Ingenieure, erledigt technische Korrespondenz, verhandelt mit Subunternehmern, Materiallieferanten, Behörden und öffentlichen Auftraggebern – im Austausch mit und im Sinne ihres Mannes. Von 1872 bis zur Eröffnung der Brücke 1883 ist Emily Roebling «das Gesicht» des Bauunternehmens Roebling. Nach Beendigung des Brückenbaus studiert Roebling in New York Mathematik und Jura, letzteres mit einem Abschluss im Jahr 1899.
Die junge amerikanische Bauingenieurin kommt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie. Der Vater ist Brauer, die Mutter, Harriet Eaton Stanton, Lehrerin, Autorin und Frauenrechtsaktivistin. Nora Stanton studiert zunächst Mathematik und Latein und ab 1902 Bauingenieurwesen an der Cornell University und schließt 1905 mit Auszeichnung ab. Sie heiratet den Erfinder und Elektrotechniker Lee de Forest. Beide sind fasziniert von der Radiotechnik und der frühen Elektronik. Noras technikbegeisterte Mutter leiht dem jungen Paar Geld für ihre unternehmerischen Aktivitäten. Aber de Forest missfällt, dass seine studierte Frau nicht nur Hausfrau und Mutter sein will, schon bald nach der Geburt der Tochter trennt sich das Paar. 1919 heiratet sie den Schiffbauer Morgan Barney und hat mit ihm zwei Kinder.
Sie arbeitet als Chef-Zeichnerin in Unternehmen des Stahl- und Brückenbaus und beim New Yorker Wasserwirtschaftsamt. Seit 1935 ist sie selbständige Architektin und Bauingenieurin und entwickelt und finanziert Bauprojekte. 1916 verweigert ihr die Amercian Society of Civil Engineers die Vollmitgliedschaft. Ihre Klage gegen Diskriminierung wird abgewiesen. 2015 befördert die ASCE Barney posthum zum Vollmitglied und feiert sie als Wegbereiterin.
Dorothy Donaldson Buchanan ist das erste weibliche Mitglied der Institution of Civil Engineers, das 1927 die Zulassungsprüfung erfolgreich besteht. Sie erwirbt 1923 an der Universität Edingburgh einen Bachelor in Bauingenieurwesen. Ihre erste Tätigkeit als Zeichnerin im Stahlunternehmen Dorman Long ermöglicht ihr die Mitarbeit am Entwurf der Sydney Harbour Bridge. Sie wird für vier Pfund pro Woche eingestellt und erhält damit das gleiche Gehalt wie die männlichen Mitarbeiter. Bei der Planung eines Stausees beim Belfast Waterworks Projekt im Mourne Valley im Büro S. Pearson & Sons 1926 macht sie Erfahrungen mit der damals neuartigen Verwendung von Druckluft zur Entwässerung schlammiger Schichten. Zurück im Unternehmen Dorman Long bearbeitet sie vor allem wieder Brückenbauten. Über diese Brückenarbeiten veröffentlicht sie als aktives Mitglied der Women's Engineering Society 1929 einen Artikel in The Woman Engineer. Mit ihrer Heirat 1930 endet ihr berufliche Laufbahn.
Martha Schneider-Bürger ist die älteste der vier Töchter des Diplomingenieurs Hugo Bürger und darf 1923 bereits an einem Mädchengymnasium ihr Abitur machen. 1923 schreibt sie sich an der TH Karlsruhe im Fach Bauwesen ein, wechselt nach dem Vordiplom an die TH München und wird 1927 die erste deutsche Diplom-Bauingenieurin. Es folgt eine kurze Anstellung in einem Ingenieurbüro.1929 beginnt sie bei der Beratungsstelle für Stahlverwendung der Wirtschaftsvereinigung Stahl, wo sie bis zu ihrer Heirat mit dem Bauingenieur Max Schneider arbeitet. Ihre Anstellung gibt sie anschließend auf, bleibt aber mit Unterbrechung aufgrund der Geburt ihrer Kinder über Jahre hinweg freiberuflich für die Beratungsstelle tätig. Sie ist zudem für das Deutsche Institut für Normung und im Verein Deutscher Ingenieure, dem sie selbstbewusst 1930 beigetreten ist, tätig. Vor allem aber arbeitet sie seit Anfang der 1930er Jahre bis zu ihrem Lebensende kontinuierlich an ihrem Tabellenwerk «Stahlbau-Profile» – Insider*innen nennen es Die Martha. Alle für den Bau wichtigen Profilnormen, Verbindungen und Vorschriften sind hier aufgeführt.
Sonja Lapajne Oblak schließt als erste slovenische Frau 1932 ihr Studium an der Technischen Fakultät in Ljubljana als Bauingenieurin ab und ist die erste Stadtplanerin Sloweniens. In den Jahren 1934 bis 1943 arbeitet sie als Statikerin für die technische Abteilung der königlichen Verwaltung der Provinz Drava Banate in Ljubljana und beaufsichtigt den Bau der vom damaligen Staat geplanten Gebäude. Sie arbeitet mit den prominenten Architekten der Zeit, Joze Plecnik, Emil Navinšek, Vinko Glanz und Edvard Ravnikar, zusammen. Lapajne Oblak berechnet das weltweit erste korridorfreie, in Stahlbeton errichtete Schulgebäude des Architekten Navinsek von 1936. 1941 tritt sie der nationalen Befreiungsbewegung bei und ist 1943 Parteisekretärin der Befreiungsfront. Sie wird verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück interniert, wo sie bis Kriegsende bleibt. Nach dem Krieg ist sie in führenden Bauunternehmen in Jugoslawien und als Stadtplanerin tätig. Bis zu ihrer Pensionierung 1969 ist sie Direktorin am Institut für Architektur, Städtebau und Bauingenieurwesen in Ljubljana.
Molly Fergusson ist die älteste Tochter eines schottischen Mediziners. Ihr Vater fertigt Geräte für die Radiographie, wodurch sie schon in ihrer Kindheit mit technischen Erfindungen in Kontakt kommt. Sie besucht das York College für Mädchen, an dem sie in ihrem Interesse an Ingenieurwissenschaften ermutigt wird. 1936 schließt sie ihr Studium an der Universität von Edinburgh mit einem Bachelor in Bauingenieurwesen mit Auszeichnung ab. Sie beginnt ein unbezahltes Praktikum in der schottischen Bauingenieursfirma Blyth und Blyth und unterstützt schon bald den Senior Partner bei der Planung von Brücken, Entwässerungs- und Abwassersystemen. Fergusson schreibt Geschichte, als sie 1948 bei Blyth und Blyth die erste weibliche Senior-Partnerin in einem britischen Ingenieurunternehmen wird. 1957 wird sie zudem als erste Frau mit dem Senior Professional Grade MICE der Institution of Civil Engineering ausgezeichnet. Als sie 1978 in den Ruhestand geht, setzt sie ihre Arbeit als Beraterin fort und verwendet die daraus resultierenden Honorare für einen Universitätsstipendienfond für junge Ingenieure.
Eine Wissensvermittlerin im akademischen Bereich ist Elfriede Tungl, die Tochter eines Dipl.-Kaufmanns und Handelsschullehrers. Sie schreibt sich 1940 an der Universität in Mathematik und Physik ein und wechselt 1941 zielstrebig an die Technische Universität Wien ins Fach Bauwesen. Als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Festigkeitslehre macht sie Erfahrungen als Wissenschaftlerin und im staatlichen Brückenbau lernt sie als stellvertretende Bauleiterin die Praxis kennen. Doch die Theorie und das akademische Umfeld der TH Wien behalten ihre Anziehungskraft. Hier promovieren 1950 15 Ingenieurinnen. Unter ihnen ist Tungl die einzige Dr.-Tech. des Baufachs und vermutlich auch die erste europäische promovierte Bauingenieurin. Es folgen 1962 die Habilitation mit der Lehrbefugnis für Elastizitäts- und Festigkeitslehre und 1973, als Krönung ihrer Laufbahn als Wissenschaftlerin schließlich die Ernennung zur außerordentlichen Professorin für Elastizitäts- und Festigkeitslehre an der TU Wien.
1954 wird Jorgenson Reece als erste Bauingenieurin des US-Bundesstaates Kalifornien zugelassen. Sie studiert an der Universität von Minnesota Bauingenieurwesen und schließt 1948 mit einem Bachelor ab. Ihr Berufslaufbahn führt nach Kalifornien, wo sie für das Verkehrsdepartement bis zu ihrer Pensionierung arbeitet. Die in den 1960er Jahren von ihr entwickelten Verkehrskontenpunkte prägen den für hohe Geschwindigkeiten konzipierten Verkehr der Westküstenmetropole Los Angeles. Der berühmteste, später nach ihr benannte, freeway interchange zwischen den Autobahnen 10 und 405 wird 1964 eröffnet und stellt die zu seiner Zeit modernste Verkehrskonzeption dar. Für diese Arbeit wird sie mit dem Governor's Design Excellence Award ausgezeichnet.